9C_185/2022 02.05.2023
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_185/2022
Urteil vom 2. Mai 2023
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Nünlist.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Silvia Bucher,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin,
Vorsorgestiftung B.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Isabelle Vetter-Schreiber,
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 23. Februar 2022 (VV.2022.15/E).
Sachverhalt:
A.
A.a. Die 1967 geborene A.________ arbeitete zuletzt bis am 18. Mai 2016 als Senior Manager Internal Audit bei der B.________ Ltd. Am 13. Juli 2016 meldete sie sich unter Verweis auf "psychische Probleme" zum Leistungsbezug bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV) an. Nach Abklärungen verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau den Anspruch auf IV-Leistungen (berufliche Massnahmen und Rente) mit Verfügung vom 6. Januar 2017.
A.b. Am 6. April 2017 stellte die Versicherte ein weiteres Leistungsgesuch. Die IV-Stelle tätigte daraufhin neuerliche Abklärungen, insbesondere erstattete die Neuroinstitut St. Gallen GmbH, IME - Interdisziplinäre Medizinische Expertisen, Prof. Dr. med. C.________ & Kollegen, am 3. Mai 2018 ein bidisziplinäres (orthopädisches, psychiatrisches) Gutachten (inklusive neuropsychologischem Zusatzuntersuch, nachfolgend: IME). Nach Rückfragen an die Gutachter und durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Verfügung vom 12. Mai 2020 rückwirkend ab 1. Oktober 2017 eine ganze Invalidenrente zu.
Dagegen erhob die Vorsorgestiftung B.________ Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, wobei sie ihr ursprüngliches Begehren auf Rentenzusprache ab Mai 2018 im Laufe des Verfahrens auf "Aufhebung der Verfügung" der IV-Stelle abänderte. Mit Entscheid vom 21. April 2021 hob das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Verfügung vom 12. Mai 2020 unter Gutheissung der Beschwerde ersatzlos auf. Die gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts seitens der Versicherten erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten hiess das Bundesgericht mit Urteil 9C_328/2021 vom 3. Januar 2022 teilweise gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
B.
Am 23. Februar 2022 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Beschwerde gut und änderte die angefochtene Verfügung vom 12. Mai 2020 dahingehend ab, als es feststellte, dass A.________ ab 1. Mai 2018 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente habe (VV.2022.15/E).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ die Aufhebung des kantonalen Entscheids, soweit darin ein Rentenanspruch für die Zeit vor dem 1. Mai 2018 verneint wird. Es sei ihr ab dem frühestmöglichen vor dem 1. Mai 2018 liegenden Zeitpunkt eine ganze Rente auszurichten. Eventualiter sei die Sache zur Ergänzung der medizinischen Akten und zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde, ebenso die Vorsorgeeinrichtung (Mitinteressierte). Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.
Mit ihrer Stellungnahme vom 4. Juli 2022 stellt die Beschwerdeführerin ein Gesuch um Verfahrenssistierung, das mit Verfügung vom 19. Juli 2022 abgelehnt wird. Am 3. August 2022 ersucht die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf ein gleichentags beim Verwaltungsgericht gestelltes Revisionsgesuch hinsichtlich des Entscheids VV.2022.15/E vom 23. Februar 2022 erneut um Sistierung des vorliegenden Verfahrens. Dem Gesuch wird mit Verfügung vom 30. August 2022 entsprochen.
D.
Am 4. Januar 2023 weist das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau das Revisionsgesuch der Beschwerdeführerin ab (VV.2022.168/E). Mit heutigem Urteil 9C_142/2022 weist das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde von A.________ ab.
Erwägungen:
1.
Die Sistierung des vorliegenden Verfahrens gemäss Verfügung vom 30. August 2022 ist aufzuheben, nachdem die Vorinstanz über das Revisionsgesuch am 4. Januar 2023 befunden hat (vgl. BGE 138 II 386 E. 6 und 7).
2.
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4).
2.2. Wie bereits mit Verfügung vom 19. Juli 2022 erwogen, ist eine Beschwerdeergänzung nach Ablauf der Beschwerdefrist grundsätzlich ausgeschlossen und insbesondere auch auf dem Weg der Replik nur insoweit statthaft, als die Ausführungen in der Vernehmlassung dazu Anlass geben (BGE 132 I 42 E. 3.3.4 mit Hinweisen). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen vor Bundesgericht sodann nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Vorliegend fällt die Berücksichtigung der mit Eingabe vom 4. Juli 2022 beigebrachten neuen Beweismittel unter dem Gesichtspunkt von Art. 99 Abs. 1 BGG ausser Betracht und es wird weder dargetan noch ist ersichtlich, inwiefern die Voraussetzung für eine ausnahmsweise Beschwerdeergänzung gegeben sein soll.
3.
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem das kantonale Gericht den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine ganze Invalidenrente erst ab 1. Mai 2018 bejaht hat.
3.2. Zwar erwächst ein Entscheid nur in jener Form in Rechtskraft, wie er im Dispositiv zum Ausdruck kommt, doch ergibt sich dessen sachliche Tragweite vielfach erst aus dem Beizug der Erwägungen. Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung werden daher die Erwägungen eines letztinstanzlichen Rückweisungsentscheids für die Behörde, an welche die Sache geht, und - im Hinblick auf ein zweites Urteil - auch für das Bundesgericht selbst verbindlich. Weder das kantonale Gericht noch das Bundesgericht dürfen sich deshalb in ihrem neuen Entscheid auf Erwägungen stützen, die das Bundesgericht im Rückweisungsentscheid ausdrücklich oder sinngemäss verworfen hat. Wegen dieser Bindungswirkung der Gerichte ist es ihnen wie auch den Parteien, abgesehen von allenfalls zulässigen Noven, verwehrt, der Beurteilung des Rechtsstreits einen anderen als den bisherigen Sachverhalt zu unterstellen oder die Sache unter rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen, die im Rückweisungsentscheid ausdrücklich abgelehnt oder überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden sind. Dementsprechend hat die kantonale Instanz, die sich erneut mit der Sache auseinanderzusetzen hat, die rechtliche Einschätzung, mit der die Rückweisung begründet wird, ihrer Entscheidung zugrunde zu legen, ohne dass im Dispositiv ausdrücklich auf die Erwägungen verwiesen wird (Urteil 8C_824/2017 vom 27. März 2018 E. 2.2 mit Hinweisen).
Die Bindungswirkung steht unter dem Vorbehalt, dass im wieder aufzuehmenden Abklärungsverfahren keine erheblichen neuen Tatsachen entdeckt oder Beweismittel aufgefunden werden, deren Beibringung zuvor nicht möglich war (prozessuale Revision; Urteil 8C_152/2012 vom 3. August 2012 E. 4.2 mit Hinweisen).
3.3. Entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1) ist nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage zu beurteilen, ob bis zu diesem Zeitpunkt ein Rentenanspruch entstanden ist. Trifft dies zu, so erfolgt ein allfälliger Wechsel zum neuen stufenlosen Rentensystem je nach Alter der Rentenbezügerin oder des Rentenbezügers gemäss lit. b und c der Übergangsbestimmungen des IVG zur Änderung vom 19. Juni 2020 (Weiterentwicklung der IV; vgl. auch Rz. 9100 ff. des Kreisschreibens des BSV über Invalidität und Rente in der Invalidenversicherung [KSIR]). Steht hingegen ein erst nach dem 1. Januar 2022 entstandener Rentenanspruch zur Diskussion, findet darauf das seit diesem Zeitpunkt geltende Recht Anwendung. Auch nach neuem Recht setzt der Rentenanspruch u.a. voraus, dass die versicherte Person während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen und nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 % invalid ist (vgl. Art. 28 Abs. 1 lit. b und c IVG).
4.
4.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bundesgerichts (im Urteil 9C_328/2021 vom 3. Januar 2022) könne eine relevante Arbeitsunfähigkeit vorliegend frühestens am 7. Januar 2017 (einen Tag nach der rechtskräftigen Verfügung der IV-Stelle vom 6. Januar 2017) angenommen werden; ein früherer Zeitpunkt falle gemäss den bundesgerichtlichen Ausführungen in Erwägung 5.3.2 seines Urteils ausser Betracht. Es hat in Würdigung der Aktenlage darauf geschlossen, dass es überwiegend wahrscheinlich spätestens im Mai 2017 zu einer objektivierbaren Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustandes mit entsprechender Chronifizierung gekommen sei. Auf zusätzliche Abklärungen hat die Vorinstanz in antizipierter Beweiswürdigung verzichtet. Die Frage der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit hat sie schliesslich offen gelassen unter Verweis darauf, dass auch für den Fall einer Verwertbarkeit auf Grundlage der im IME-Gutachten vom 3. Mai 2018 attestierten Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepasster Tätigkeit ein Anspruch auf eine ganze Invalidenrente resultierte. Der Rentenbeginn sei auf den 1. Mai 2018 festzulegen.
4.2. Vorweg ist Folgendes festzuhalten: Die Beschwerdeführerin scheint - auch beim Verweis auf das Urteil 9C_23/2019 vom 10. Mai 2019 - zu verkennen, dass die Überprüfung des Revisionsgrundes als Vorstufe der Prüfung des Rentenanspruchs im Rahmen der Neuanmeldung (Art. 17 Abs. 1 ATSG analog) eine Beurteilung des Gesundheitszustandes bis zum Erlass der Verfügung vom 6. Januar 2017 voraussetzte. Das Bundesgericht würdigte den medizinischen Sachverhalt bis zum Verfügungszeitpunkt vom 6. Januar 2017 mit Urteil 9C_328/2021 vom 3. Januar 2022 anlässlich der Beantwortung der Frage nach einer wesentlichen Veränderung abschliessend und verbindlich. Es schloss darauf, dass bis zum 6. Januar 2017 kein IV-relevanter Gesundheitsschaden vorgelegen habe (E. 5.3.2 in fine S. 8). Aufgrund einer aktenkundigen Chronifizierung ab Februar 2017 bejahte es einen Revisionsgrund im Vergleich zum Verfügungszeitpunkt vom 6. Januar 2017 (E. 5.3 f. S. 6 ff.).
Für den Zeitraum bis zum 6. Januar 2017 schloss es damit (zumindest implizit) auch den Eintritt einer (für den Anspruch auf eine Invalidenrente) relevanten Arbeitsunfähigkeit und den Beginn des Wartejahres aus. Nachdem weder geltend gemacht wird noch ersichtlich ist, dass sich im Rahmen des neuerlichen Abklärungsverfahrens durch die Vorinstanz neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinne einer prozessualen Revision ergeben hätten, welche die sachverhaltliche Grundlage des bundesgerichtlichen Rückweisungsurteils 9C_328/2021 vom 3. Januar 2022 erschütterten (E. 3.2 hiervor), bestand für das kantonale Gericht kein Raum, von der Würdigung des Bundesgerichts abzuweichen. Es blieb einzig zu klären, wie sich die ab Februar 2017 aktenkundige Chronifizierung auf die Arbeitsfähigkeit und damit auch auf das Wartejahr (das frühestens ab der Chronifizierung beginnen konnte) auswirkt.
Hätte die Möglichkeit bestanden, dass die Chronifizierung vor Verfügungserlass am 6. Januar 2017 eingesetzt hatte, oder hätte dies bei Fällung des Urteils 9C_328/2021 am 3. Januar 2022 sogar festgestanden, so hätte das Bundesgericht die Abweisung des Rentengesuchs vom 6. April 2017 bereits mit besagtem Urteil entweder (im letzteren Fall) mangels eines Revisionsgrundes bestätigt oder (im ersteren Fall) die Sache zwecks Prüfung des Eintritts der Chronifizierung als Revisionsgrund zurückgewiesen.
Mit Blick auf das Dargelegte hat die Vorinstanz daher kein Recht verletzt, indem sie erwogen hat, dass eine relevante Arbeitsunfähigkeit frühestens am 7. Januar 2017 angenommen werden könne (vorinstanzliche Erwägung 3.1 S. 8). Vielmehr ist sie damit den in Erwägung 3.2 hiervor aufgezeigten Grundsätzen nachgekommen.
4.3. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist Erwägung 5.4 des Urteils 9C_328/2021 vom 3. Januar 2022, wonach das kantonale Gericht im Rahmen der Rückweisung Abklärungen hinsichtlich des Arbeitsfähigkeitsverlaufes (angestammt und leidensangepasst) für den Zeitraum ab der rentenabweisenden Verfügung vom 6. Januar 2017 zu veranlassen habe, nicht zwingend dahingehend zu verstehen, dass eine Beurteilung der medizinischen Akten durch die Vorinstanz damit ausgeschlossen wurde. Das Bundesgericht hat vielmehr darauf verzichtet, zu bestimmen, in welcher Form die Abklärungen stattzufinden hatten. Sollte die medizinische Aktenlage eine valide Grundlage für eine Beurteilung durch das Gericht bieten - dies einzuschätzen wurde der Vorinstanz überlassen -, wollte das Bundesgericht eine solche nicht ausschliessen. Dass die Aktenlage eine Beurteilung nicht zulässt, wird weder substanziiert noch ist dies ersichtlich (siehe E. 4.4 hiernach). Die Vorinstanz ist mit ihrem Vorgehen somit weder in Willkür verfallen noch hat sie sonst wie Bundesrecht verletzt. Zu prüfen bleibt, ob ihre Aktenbeurteilung einer Überprüfung standhält.
4.4. Im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt, in welchem die Chronifizierung vorliegend eingesetzt hat, rügt die Beschwerdeführerin zu Recht eine offensichtlich unrichtige Feststellung respektive Würdigung des Sachverhalts durch das kantonale Gericht: Wie sie korrekt vorbringt, wurde bereits im Urteil 9C_328/2021 vom 3. Januar 2022 festgehalten, dass gemäss Akten ab Februar 2017 von einer Chronizität gesprochen werde (E. 5.3.1 S. 7). Indem die Vorinstanz davon ausgegangen ist, dass noch im April 2017 (soweit lesbar) keine Rede von einer Chronifizierung gewesen sei (vorinstanzliche Erwägung 3.3 S. 9), hat sie den Sachverhalt auf offensichtlich unrichtiger Grundlage gewürdigt. Diese Würdigung ist daher durch das Bundesgericht zu korrigieren (E. 2.1 hiervor).
In ihrer Vernehmlassung verweist die Mitinteressierte auf die Stellungnahme von Dr. med. D.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 8. Mai 2019. Darin geht die Fachärztin von einer Verschlechterung mit Datum der Wiederanmeldung oder spätestens seit Eintritt in die Klinik E.________ am 22. Mai 2017 aus. Dass im Zeitpunkt der Neuanmeldung vom 6. April 2017 überwiegend wahrscheinlich ein chronifizierter Gesundheitsschaden vorlag, erscheint mit Blick auf die Aktenlage nachvollziehbar. Hinsichtlich der Frage, wann die Chronifizierung überwiegend wahrscheinlich eingesetzt hat, enthält die RAD-Aktenbeurteilung jedoch keine schlüssige Begründung. Diesbezüglich sind die folgenden Arztberichte relevant: Im Bericht von Dr. med. F.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 14. Februar 2017 wird zwar noch ein Bezug zu psychosozialen Belastungsfaktoren hergestellt, welche Ursache der damals schweren Dekompensation gewesen sein sollen. Es ist jedoch auch die Rede davon, dass das kumulative Kränkungserleben aktuell nicht verarbeitet werden könne. Es zeige sich eine Chronizität der psychischen Störung sowie der damit einhergehenden strukturellen Defizite; die Beschwerdeführerin erlebe sich in einer Sackgasse. Am 22. März 2017 sprach Dr. med. G.________ davon, dass trotz zwischenzeitlich etablierter medikamentös-antidepressiver Behandlung sowie einer hilfreich erlebten ambulanten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und ergänzenden flankierenden sozialpsychiatrischen Unterstützung keine durchgreifende Stabilisierung und Verbesserung seit der letzten Entlassung aus der stationären Therapie (August 2016) gelungen sei. Die Chronifizierung hat mit Blick auf diese ärztlichen Einschätzungen überwiegend wahrscheinlich im Februar 2017 eingesetzt.
Bei im Übrigen unbestrittenen Grundlagen ist entgegen der Schlussfolgerung des kantonalen Gerichts bereits ab Februar 2017 von der im IME-Gutachten attestierten Leistungseinschränkung von 50 % in leidensangepasster Tätigkeit auszugehen. Dies hat zur Folge, dass der Anspruch auf eine ganze Invalidenrente - wie von der Vorinstanz richtigerweise festgestellt, unabhängig von der Frage der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit - nicht erst am 1. Mai 2018 entsteht, sondern am 1. Februar 2018 (Art. 28 und 29 IVG).
5.
5.1. Mit der Festsetzung des Rentenanspruchs vor dem 1. Mai 2018 wird dem Hauptantrag der Beschwerdeführerin entsprochen. Damit obsiegt sie, so dass der Entscheid vom 23. Februar 2022 betreffend den Zeitpunkt des Rentenbeginns abzuändern ist.
5.2. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat der obsiegenden Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Damit wird das Gesuch der Versicherten um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.
Zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens ist die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückzuweisen (Art. 67 und 68 Abs. 5 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 23. Februar 2022 wird insoweit abgeändert, als die IV-Stelle des Kantons Thurgau der Versicherten ab 1. Februar 2018 eine ganze Rente zu entrichten hat.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Vorsorgestiftung B.________, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 2. Mai 2023
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist